Wahlkämpfe sind eigentlich eine Hochzeit der Demokratie. Gesellschaftliche Konflikte werden zugespitzt, Argumente ausgetauscht, die Möglichkeit des Neuen liegt in der Luft. Doch der viel zu langsam gestartete Wahlkampf hat plötzlich eine schlechte Dynamik erlangt. Spätestens am Tag nach der Wahl wird bei vielen die Reue einsetzen. Rausch verdrängt Rationalität. Uns drohen Polarisierung, Enttäuschung und das Ende von Europa. Es ist Zeit, einmal Luft zu holen, ehe wir tun, was wir nicht wollen.
I. Polarisierung – Auschwitz war nicht letzte Woche.
Die liberale Demokratie ist für Extremisten der Erzfeind. Indem in der Demokratie die Probleme aller Menschen – nicht nur einiger ausgewählter – von verschiedenen Seiten beleuchtet werden, zieht sie Menschen fortlaufend in die politische Mitte. Empathie und gemeinsamer Diskurs sind tägliche Routine. Extremisten und damit auch die auf dem Vormarsch befindlichen Rechtsextremen wollen Menschen nicht in der Mitte. Sie sabotieren den notwendigen Brückenbau in einer Demokratie, wo sie nur können. Für Demokraten kann es daher nie Ziel sein, mit Rechtsextremen zusammenzuarbeiten. Man stimmt nicht für Anträge der AfD, man spricht sich nicht mit ihr ab, man macht sich nicht abhängig von ihr. Das Ziel ist immer: Zum Schutz der Demokratie den Einfluss von Rechtsextremen so gering wie möglich halten.
Deswegen ist es auch ein Gebot, dass Demokraten immer versuchen, unter sich tragfähige Kompromisse und Mehrheiten zu organisieren. Nüchtern muss man aber feststellen: In der Fluchtmigration haben die demokratischen Parteien in Deutschland und Europa seit zehn Jahren keine Lösung gefunden.
Dabei ist es kein Randthema. Es ist konstant ein Thema, das die Menschen mit am meisten beschäftigt. Gerade irreguläre Migration massiert kulturelle wie sicherheitspolitische Triggerpunkte. Wenn jedoch die Demokratie dauerhaft bei einem so zentralen Thema keine „Lösung“ bietet, dann ist auch das eine Gefahr für die Demokratie. Wieso soll ich demokratische Parteien wählen, wenn sie mir nicht bei meinen Problemen helfen?
Wer also als Liberaler und Konservativer vergangene Woche im Bundestag vor der schweren Entscheidung stand, ob sie oder er einem Antrag aus den demokratischen Reihen aus eigener(!) Überzeugung zustimmt, musste zwei Gefahren für die Demokratie miteinander abwägen: Die Gefahr des Einflusses Rechtsextremer auf das politische Geschehen mit der Gefahr der Auswirkungen der Demokratieenttäuschung als Folge von Handlungsunfähigkeit der politischen Mitte.
Statt hier die Möglichkeit für eine Brücke des Verständnisses unter Demokraten zu erkennen, wählten SPD und Grüne die Polarisierung. In Ekstase wurde in das oberste Regal der Empörung gegriffen: Reihenweise gab es Selfies mit betroffener Miene. Von einem „unverzeihlichen“ Dammbruch ist die Rede. In den sozialen Medien wurde sogar die Entscheidung in den Kontext des Gedenkens an Auschwitz gerückt.
Spätestens hier muss man „Halt“ rufen. Auschwitz darf nicht relativiert werden. Wer zu früh die Empörungsspirale hochschraubt, der schadet der Demokratie auf zwei Weisen: Erstens verlieren so Warnungen vor den Gefahren für die Demokratie dauerhaft an Gewicht. Das fällt auf die Füße bei der Verteidigung der Demokratie. Zweitens drückt man auf diese Weise ernsthaft besorgte Demokraten aus der politischen Mitte. Beides erleichtert das Geschäft der Extremisten.
Es ist Zeit, Luft zu holen. Wählen wir nicht Polarisierung. Wählen wir den demokratischen Streit, der Gräben nur so breit werden lässt, dass noch eine Brücke gebaut werden kann.
II. Enttäuschung – Ehrlich über das Staatsversagen sprechen.
Kurz nach Weihnachten meldete sich Schleswig-Holsteins Bundeswehr-Kommandeur Axel Schneider öffentlich zu Wort. Man müsse den Menschen im Land „mehr zumuten und auch zutrauen“, und weiter: „Wir müssen mit ihnen wie mit Erwachsenen reden und alle mehr in die Eigenverantwortung nehmen.“
Schneider bezog sich zwar auf die Landesverteidigung. Der Appell ist jedoch darüber hinaus wichtig. Demokratie ermöglicht und braucht mündige Bürger. Politik muss Respekt haben gegenüber dem Bürger als Souverän. Dazu gehören Offenheit und Ehrlichkeit. Damit ist nicht gemeint, den politischen Kern hinter tausenden Details zu verbergen. Damit ist gemeint, den Bürger als Erwachsenen zu behandeln.
Um dem gerecht zu werden, darf die Politik nach Aschaffenburg nicht nur über irreguläre Migration sprechen, sondern muss auch über das Versagen der Behörden und der Sicherheitsarchitektur sprechen! Ob Brokstedt, Magdeburg oder jetzt Aschaffenburg: In allen Fällen handelten Behörden trotz gesetzlicher Kompetenz nicht, obwohl sie die notwendigen Informationen hatten oder hätten haben können. Auch beim Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg sprechen dafür die bisherigen Informationen.
Im Fall der Messerattacke von Brokstedt meldete unter anderem die Staatsanwaltschaft Bonn rund 20 Ermittlungsverfahren nicht an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) – darunter eine Verurteilung auf ein Jahr auf Bewährung. Das BAMF hätte ansonsten die Aufhebung des subsidiären Schutzes des späteren Täters Ibrahim A. in die Wege leiten können. Beim mutmaßlichen Täter des Anschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt war bereits eine Gefährderansprache geplant. Diese Maßnahme unterblieb aber. Und der Messerangriff in Aschaffenburg hätte anscheinend verhindert werden können, wenn der ausreisepflichtige mutmaßliche Täter Enamullah O. im Rahmen der Dublin-III-Verordnung nach Bulgarien zurückgeführt worden wäre. Bulgarien ist der für ihn zuständige Mitgliedstaat. Das war real möglich – Bulgarien nimmt Flüchtlinge zurück – erfolgte aber anscheinend nicht wegen einer schlechten Kommunikation zwischen der bayerischen Ausländerbehörde und dem BAMF.
Offensichtlich braucht es eine Föderalismusreform der Sicherheits- und Ausländerbehörden, um das komplexe Verwaltungssystem auch tatsächlich handlungsfähig zu machen.
Die Schlussfolgerungen aus Aschaffenburg müssen jedenfalls weitergehen als die notwendige Begrenzung der irregulären Migration. Andernfalls wird zum Beispiel nicht auch der Schutz verbessert vor Menschen, die sich hier über das Internet in der Islamisten- oder Reichsbürgerszene radikalisieren. Zudem droht ansonsten Enttäuschung bei Bürgerinnen und Bürgern.
Es mag zwar gerade für CDU, CSU und SPD, die die Innenminister in den Ländern und im Bund stellen, angenehm sein, vor allem über irreguläre Migration zu sprechen. Es führt aber zu Enttäuschung und damit Politikverdruss, wenn die Menschen langfristig merken, dass die angebotene Lösung gar keine ist, sondern höchstens ein Baustein dazu.
Es ist Zeit, Luft zu holen. Spitzen wir im Wahlkampf zu. Aber verkürzen wir nicht Debatten so, dass Bürgerinnen und Bürger unrealistische Erwartungen entwickeln und später in ihnen enttäuscht werden. Der Anfang für eine bessere politische Kultur beginnt dort, wo wir wieder den mündigen Bürger in das Zentrum stellen.
III. Ende von Europa – Nicht aus Versehen Europa töten.
Symbole sind wichtig in der Politik. Die Wirkung von Symbolen wird gerade in der Demokratie oft unterschätzt. In einer Diktatur steht der Zwang immer mit im Raum, auch in der Amtsstube. Eine Demokratie – selbst wenn auch sie Zwang kennt – ist viel mehr darauf angewiesen, dass Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen akzeptieren, Institutionen vertrauen, kurz: mitmachen. Symbole als wirkmächtige Visualisierung einer bestimmten Haltung oder Meinung haben deswegen einen Einfluss auf die Politik.
Aus diesem Grund sollte der am 29. Januar vom Bundestag beschlossene Entschließungsantrag mit der Drucksachen-Nummer 20/14698, besser bekannt als der „Merz-Plan“, ernst genommen werden; auch wenn er die Regierung nicht bindet. Der Antrag war ein Symbol für die Möglichkeit der Begrenzung der irregulären Migration. Er hätte aber auf das Symbol verzichten sollen, dass Deutschland dafür auch bereit wäre, auf Europa zu verzichten.
In dem Antrag werden dauerhafte Kontrollen an den deutschen Grenzen gefordert. Solche Kontrollen kosten die deutsche Wirtschaft und Bevölkerung Milliarden Euro und kämen daher wirtschaftlich zur Unzeit. Auch würde Deutschland Europarecht brechen, das nur vorübergehende Grenzkontrollen erlaubt (etwa zur WM). Wir sprechen über das mindestens vorübergehende Ende von Schengen und der Reisefreiheit. Wir sprechen über einen Kraftschub für diejenigen, die Europa wirklich abschaffen wollen. Wir sprechen über bleibende Schäden.
Naiv wäre es, dem zu entgegnen, dass ja auch andere Mitgliedstaaten sich zum Teil nicht an Europarecht halten. Es macht – ohne unseren Nachbarn zu nahe treten zu wollen – einen Unterschied, ob etwa Dänemark an der deutschen Grenze kontrolliert oder ob das Deutschland als größter Mitgliedstaat und logistisches Drehkreuz in der Mitte Europas an allen seinen Grenzen macht. Zudem würde eine solche Gefährdung Europas das Problem der irregulären Migration deutlich verschärfen. Das sieht man an Großbritannien.
Die Zahl der Flüchtlinge in Großbritannien ist nach dem Brexit deutlich gestiegen. Das gilt auch für die Menge irregulärer Einreisen in Booten über den Ärmelkanal. Lag die Zahl so eingereister Menschen 2018 nur bei rund 300, waren es 2022 mehr als 45.000. Ein Grund: Weil Großbritannien nicht mehr Teil der Europäischen Union ist, droht Flüchtlingen dort auch keine Zurücküberstellung mehr im Rahmen der Dublin-III-Verordnung. Das macht Abschiebungen deutlich unwahrscheinlicher und Großbritannien besonders attraktiv für Flüchtlinge. Das Europäische System mit der neu beschlossenen GEAS-Reform, die bis 2026 umzusetzen ist, hat Fehler an denen gearbeitet werden muss. Aber der größte Fehler wäre es, das europäische System in Gefahr zu bringen.
Die Forderung nach Grenzkontrollen war zum Glück nicht mehr in dem Entwurf des am Freitag zur Abstimmung stehenden Zustrombegrenzungsgesetzes enthalten. Ein Einspruch für Europa ist dennoch notwendig, um der Symbolwirkung entgegenzutreten. Denn ein Ende von Europa möchte keiner, der es gut mit Deutschland meint.
Es ist Zeit, Luft zu holen. Leisten wir uns auch im Eifer des Wahlkampfs nicht, Europa geringzuschätzen. Sprechen wir stattdessen mehr darüber, wie wir Europa nutzen können. Lösen wir Probleme gemeinsam mit unseren Europäischen Freunden anstatt alleine an ihnen zu scheitern.
IV. Schluss
In diesem Wahlkampf geht es um alles. Umso wichtiger ist es, dass wir nicht vergessen, was unsere Werte sind, wer wir sein wollen und wie wir gemeinsam leben wollen. Bauen wir weiter Brücken, behandeln wir uns gegenseitig als mündige Bürger, machen wir pragmatische Politik im europäischen Geist.
Merz hat dem Land keinen Gefallen getan, indem er die Entscheidung über wichtige Fragen zum Wahlkampfmanöver machen wollte. Zumal gerade so im Wahlkampf der Eindruck entstehen konnte, Migration sei generell ein Problem. Richtig ist aber: Wir freuen uns über die hier integrierten Zuwanderer und ihre Erfolgsgeschichten. Wir freuen uns über die, die hier in den Arbeitsmarkt einwandern und mit anpacken möchten. Um die geht es nicht bei der Begrenzung der irregulären Migration. Für diese Unterscheidung war in der letzten Woche zu wenig Platz. Aber Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter.
Das Land braucht jetzt eine zentristische Kraft in der Mitte der Gesellschaft, die zusammenführt. In diesem Sinne sind der Vorschlag der FDP-Bundestagsfraktion am Freitag, das Zustromsbegrenzungsgesetz zwischen allen demokratischen Parteien der Mitte zu einigen, und der jetzt nochmalige Anlauf seit Montag, ein Lichtblick. Es ist Zeit, Luft zu holen und aufeinander zuzugehen.
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