top of page

Fünf Notizen zum ALDE-Kongress 2022

Autorenbild: Helmer KraneHelmer Krane

Aktualisiert: 28. Juni 2022

Vom 2. bis zum 4. Juni fand der Kongress der Alliance of Liberals and Democrats for Europe (ALDE) in Dublin statt. Im Blick ist die nächste Europawahl in weniger als zwei Jahren. Der Kongress war der Beginn des Anlaufs zum Absprung am Wahltag. Schon heute ist die liberale Renew Europe-Gruppe die drittgrößte Fraktion im Europäischen Parlament (EP). Im nächsten EP soll eine noch größere Fraktion sitzen. Dafür braucht es eine gesellschaftlich breite Bewegung mit einer liberalen Agenda, hinter der sich die Europäer/innen versammeln können. Als Delegierter der FDP für den ALDE Council schreibe ich hier fünf Notizen: wichtige Neuigkeiten, Einordnung und Gedanken darüber hinaus.


1. Resolutionen für EUROPA


Der Kongress hat mehrere gute Resolutionen beschlossen.

In der FDP-Delegation war ich verantwortlich für (1.) das Thema des Kriegs in der Ukraine und (2.) für eine Resolution zu einem liberalen Ansatz in der Drogenpolitik. Für diese Bereiche habe ich die Debatten für die Delegation geführt. Über einen Klick auf den jeweiligen Titel, kommt man zu den verabschiedeten Resolutionen.


  1. Strengthening support for Ukraine Die Resolution ist ein klares Bekenntnis zur Unterstützung der Ukraine, militärisch (über z.B. Waffenlieferungen) als auch humanitär. Die FDP-Delegation hat viele Inhalte erfolgreich in diese Resolution eingebracht. Unter anderem war uns wichtig, dass die Resolution den Bruch der NATO-Russland-Gründungakte und Putins Drohungen gegen andere ehemalige Staaten des Warschauer Pakts aufgreift. Denn es kann nicht deutlich genug gemacht werden: Der Angriffskrieg auf die Ukraine geht uns auch deswegen etwas an, weil er unsere eigene Sicherheit gefährdet. Zudem haben wir uns stark gemacht für das Bekenntnis der ALDE zur militärischen Unterstützung der Ukraine, inkl. der Lieferung schwerer Waffen, und den Aufbau einer handlungsfähigen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Sehr glücklich bin ich damit, dass die Forderung nach EU-weiten Visa für Oppositionelle in Russland und Belarus aufgenommen wurde sowie eine Pro-Haltung zur Nutzung von VPN-Tunneln und der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Die aktuellen Versuche unter dem Titel "Chatkontrolle" zeigen, dass in Europa viele Politiker gibt, denen verschlüsselte Kommunikation ein Dorn im Auge ist. Dagegen stellen wir uns. In der Debatte habe ich mich klar gegen Forderungen nach einem unmittelbaren Waffenstillstand und einem kompletten Austausch aller Kriegsgefangenen ausgesprochen. Denn: Anders als Russland sollten wir die nationale Souveränität der Ukraine respektieren. Eine Forderung z.B. nach einem sofortigen Waffenstillstand wäre genau das Gegenteil und würde den Verlust der momentan von Russland besetzten Gebiete bedeuten.

  2. Towards a harm reduction approach to drugs Die beschlossene Resolution ist ein Aufruf zu einem sog. "Harm-Reduction-Ansatz" (Ansatz der Schadensminderung) in der Drogenpolitik. Dieser Ansatz bedeutet z.B., dass der Konsum und der Besitz kleiner Mengen an Drogen entkriminalisiert werden soll. Drogensucht wird danach vor allem als (psychische) Krankheit begriffen, bei deren Behandlung die Betroffenen unsere Unterstützung verdienen. Dieser Ansatz entspricht sehr meinem Menschenbild. Die Drogenpolitik der letzten Jahre hat durch Kriminalisierung nicht nur unerträgliche Situationen in den Herkunftsländern der Drogen gefördert, sondern hat auch Menschen hier, die auf unsere Hilfe angewiesen sind, durch Kriminalisierung an den Rand der Gesellschaft gedrängt anstatt ihnen vor allem Unterstützung für ein besseres Leben anzubieten. Für mich steht auch in der Drogenpolitik das Selbstbestimmungsrecht des/der Einzelnen im Zentrum. Freiheit bedeutet auch Verantwortung und daher Schutz von Menschen, die suchtkrank sind, oder die aufgrund ihres Alters vor den Gefahren von Drogen geschützt werden müssen. In diesem Sinne haben wir als FDP-Delegation erfolgreich nicht nur die Resolution unterstützt, sondern auch für die Aufnahme einer Passage gesorgt, in der die Gefahr für Minderjährige betont und der Schutz von ihnen vor gefährlichen Drogen gefordert wird.

Neben diesen beiden Resolutionen habe ich mich z.B. bei der Resolution Accelerating energy transition – reducing our dependence on fossil fuels – ensuring our energy supply erfolgreich dafür eingesetzt, dass das Prinzip der Technologieoffenheit beim Klimaschutz mitgefordert wird. Denn Marktwirtschaft und Innovationsgeist stehen Klimaschutz nicht entgegen, sondern sind unsere mächtigsten Instrumente, um den kommenden Generationen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen.


Viele weitere gute Resolutionen wurden beschlossen. Themen waren u.a. die Nutzung von genveränderten Kulturpflanzen gegen die drohende Nahrungskrise, mentale Gesundheit, ein europäisches Schienennetz, ein europäisches Migrations- und Asylsystem, Rechtsstaatlichkeit, ein souveränes Europa und viele mehr. Alle weiteren beschlossenen Resolutionen lassen sich hinter diesem Link finden.


PS: Danke für die tolle inhaltliche Vorbereitung durch die Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle und unsere Abgeordneten im Europaparlament!


2. zuwachs FÜR die ALDE


Der parallel zum Kongress tagende ALDE Council entschied gleich am ersten Tag über mehrere Mitgliedsanträge von Parteien.


Am Ende wurden vier Parteien als neue vollwertige Mitglieder begrüßt. Besonders stolz bin ich, dass sich die ukrainische Partei "Sluha Narodu" (übersetzt: Diener des Volkes) vom Präsidenten Selenskyj für die ALDE als europäische Parteienfamilie entschieden hat. Die Präsentation durch die Vertreterin der Partei war berührend. Alleine schon die beschlossenen Resolutionen zeigen, dass wir europäischen Liberalen fest zur Ukraine im Krieg stehen. Zudem sind wir der klare Gegner der Autoritären in ihrem Kampf gegen die liberalen Demokratien, der auf ukrainischem Boden gerade brutal geführt wird. Mit Sluha Narodu in unserem Team können wir eine noch bessere Stimme zur Unterstützung der Ukrainer und Ukrainerinnen sein.


Weitere Neuaufnahmen als Vollmitglied waren die Partei "Lelo" aus Georgien, die kroatische Partei "Centar" und die "Iniciativa Liberal" aus Portugal. Die beiden letztgenannten waren bereits zuvor sog. affiliate members der ALDE.

Vertagt haben wir im Council eine Entscheidung zur Aufnahme der kosovarischen "PDK" (übersetzt: Demokratische Partei des Kosovo).


Hier gab es u.a. Fragen zur gesellschaftspolitischen Liberalität, denn gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheit dürfen nicht getrennt werden. Zudem hat die Partei, die viele Jahre im Kosovo regiert hat, eine schwierige Geschichte. Unter anderem ist ihr früherer Vorsitzender Hashim Thaçi vor dem Kosovarischen Sondergericht in Den Haag wegen Kriegsverbrechen angeklagt.


Gleichwohl war die Präsentation des Parteivorsitzenden Memli Krasniqi offen und beeindruckend. Die Menschen im Kosovo sind auf einer Reise. Es ist eine ehrenvolle Aufgabe der ALDE durch Partnerschaften die liberale europäische Gesellschaft zum Ziel dieser Reise zu machen. Der West-Balkan ist eine wichtige Region für die Europäische Union.


Noch nicht als volles Mitglied aber als sog. affiliate member wurde die georgische Partei "Girchi–More Freedom" aufgenommen. Hier gibt es eine Übersicht zu allen Mitgliedern.


3. Liberale Städte und Dörfer


Gerade weil in Schleswig-Holstein uns 2023 Kommunalwahlen bevorstehen, fand ich den Mitgliedsantrag und die Geschichte der kroatischen Partei Centar sehr inspirierend. Ich glaube, dass für uns Liberale die Kommunalpolitik in Gemeinde- und Stadtvertretungen ganz besonders wichtig ist. Gerade hier können Liberale mit ihrem Fokus auf die Bedürfnisse von Menschen und der unverwechselbaren Kombination aus Ideal und Pragmatismus begeistern.


Centar startete 2013 als Bürgerinitiative mit dem Namen Za pametne ljude i pametan grad (übersetzt: Für smarte Menschen und eine smarte Stadt) in Split, einer der Hochburgen der Konservativen in Kroatien. Die Initiative versammelte engagierte Menschen, die mit der Stadtpolitik unzufrieden waren. Die Partei erreichte 2013 bei der Kommunalwahl noch 9 %, im Jahr 2021 waren es schon 20 % und der Kandidat der Partei gewann sogar die Wahl zum Bürgermeister von Split. Centar hat diese Erfolgsgeschichte vor Ort im ganzen Land forterzählt und ist mittlerweile im kroatischen Parlament vertreten.


Centars Aufstieg ist undenkbar ohne die Erfolge für die Menschen vor Ort als Visitenkarte für die jeweils nächste Wahl. Dazu gehört etwa die Wiederbelebung von vernachlässigten Stadtteilen. Das Selbstverständnis von Centar ist daher auch das einer wertegebundenen Partei des "civic proactivism". Sie tritt ein für menschliche, bürgerliche und wirtschaftliche Freiheiten. Zu ihren Zielen gehören Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und gleicher Zugang zu Bildung und Gesundheit.


Centar zeigt: Gerade vor Ort kann man sehen, warum der Liberalismus historisch so erfolgreich ist. Wir Liberale stellen den Menschen in den Mittelpunkt und ziehen uns nicht in Elfenbeintürme zurück, sondern sind ideell-pragmatisch und wollen uns entwickeln. Liberale, die das beherzigen, sind nicht nur gute Partner für die Menschen, sondern auch an der Wahlurne stark.


Mögen auch die Herausforderungen in jedem Dorf und jeder Stadt andere Namen haben: so gibt es nach meiner Erfahrung liberale Grundprinzipien, mit denen wir Liberale vor Ort punkten können. Wir überzeugen da, wo wir für eine bürgerorientierte Verwaltung arbeiten, in die die Menschen vertrauen können, wo wir Freiräume für gesellschaftliches und wirtschaftliches Engagement schaffen, wo wir neue Chancen von Klein auf anbieten, wo wir beteiligen und Hürden abbauen, die Bedürfnisse der Menschen für die Lebensqualität aller in den Mittelpunkt stellen, Innovation und Wissensaustausch wertschätzen und den jeweiligen Ort nicht abgeschlossen denken, sondern offen und neugierig auf den Rest der Welt.


Centar mag ein Beispiel aus Kroatien sein. Aber Geschichten wie diese im Kleinen gibt es auch in Deutschland. Als Ergebnis nachhaltiger Arbeit haben die Menschen erst kürzlich in Quickborn einen Liberalen in das Rathaus gewählt. Die kommende Kommunalwahl ist eine gute Gelegenheit mit Menschen vor Ort diese Geschichten fortzuschreiben.


4. ALDE ABREISSEN UND NEU MACHEN?


Auch Liberale brauchen, um mit ihren Anliegen viele Menschen zu erreichen, zu überzeugen und mobilisieren zu können, eine schlagkräftige Organisation. Eine echte liberale Organisation muss professionell sein und gleichzeitig Raum zum Experimentieren geben.


In diesem Zusammenhang war eines der Topthemen in Dublin der Vorschlag, ein neues paneuropäisches zentristisches Bündnis zu gründen. Der Vorschlag kam von einer Gruppe um Emmanuel Macrons La République en Marche (En Marche) und wurde pünktlich zum Kongress öffentlich.


Dafür ist es wichtig zu wissen, dass Macrons Wahlbündnis Renaissance und die ALDE-Abgeordneten im Europäischen Parlament zwar eine Fraktion bilden (Renew Europe), aber insbesondere En Marche nicht Mitglied der ALDE ist.


Die Gründung einer neuen Organisation wäre das Ende der ALDE, die mittlerweile 45 Jahre alt ist und mehr als 70 Parteien vereint.


Der Grund, warum En Marche nicht einfach der ALDE beitritt, ist, dass Macron Kritik an der Organisation der ALDE hat. Er fordert strukturelle Veränderungen für eine größere Schlagkraft.


Vielen fällt es verständlicherweise schwer, über ein Ende der ALDE zu diskutieren. Die ALDE hat nicht nur Verdienste, sondern immer noch eine große Strahlkraft. Das zeigt der Beitritt der Partei des ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Aber ginge es nicht noch besser?


Liberale zeichnen sich - wie bereits oben beschrieben - durch ihren ideellen Pragmatismus und Willen zur Entwicklung aus. Deswegen ist die ALDE auch kein Club nur für Liberale, sondern ein Bündnis mit Zentristen, die sich zum Teil selbst nicht als liberal verstehen. Auch En Marche bezeichnet sich nicht als liberal, auch weil der Begriff "liberal" in Frankreich verbrannt ist.


Deswegen sollte uns Liberalen (die sich auch so bezeichnen) vor allem wichtig sein, dass jede zukünftige Organisation das liberale Fundament betont. Das gehört zu unserem Sprach- und Gedankenhaus. Weniger sollte es uns um den Fortbestand der juristischen Person "ALDE" gehen. Wer wären wir, Angst vor Neuem zu haben, vor allem, wenn wir so noch erfolgreicher für die Europäer/innen arbeiten könnten? Und Macrons Bündnis für den Vorschlag einer Neugründung wird z.B. mitgetragen von den Parteien des - aktuell nur noch geschäftsführenden - bulgarischen Premierminister Kiril Petkov (Prodalschawame promjanata) und des slowenischen Premierminister Robert Golob (Gibanje Svoboda) - beide sind noch nicht Mitglied der ALDE.


Gemeinsam könnten wir eine bessere gesamteuropäische Bewegung sein, die in mehr Mitgliedstaaten repräsentiert ist als es die ALDE heute alleine ist. Es wäre eine noch attraktivere Alternative zu den alten, behäbigen, großen europäischen Parteienfamilien der Konservativen und der Sozialdemokraten. Das wäre gut für Europa.


5. SVENJA HAHN IST JETZT VIZE-VORSITZENDE DER ALDE



Nach den Inhalten zu den Personen: In Dublin wurde das ALDE Party Bureau neu gewählt.

Als Vorsitzende der ALDE wurden Timmy Dooley (Fianna Fáil, Irland) und Ilhan Kyuchyuk (MRF, Bulgarien) gewählt. Sie standen der ALDE bereits letztes Jahr zur Seite als sie nach dem überraschenden Tod des bisherigen Vorsitzenden Hans van Baalen vorübergehenden den Vorsitz übernommen hatten.


Besonders schön - auch für uns Freie Demokraten - ist das Ergebnis der Wahlen zu den Vize-Vorsitzenden der ALDE. Denn Svenja Hahn, Mitglied im Europäischen Parlament für die FDP, wurde mit einem sehr guten Ergebnis gewählt. Neben ihr wurden Annelou van Egmond (D66, Niederlande), Kira Rudik (Holos, Ukraine), Sal Brinton (Liberal Democrats, Großbritannien) and Daniel Berg (Momentum, Ungarn) gewählt.

Alexander Graf Lambsdorff, der viele Jahre Vize-Vorsitzender der ALDE war und nicht erneut angetreten ist, verdient eine große Portion Wertschätzung für seine Arbeit. Er spielt eine ganz große Rolle für das europapolitische Profil der Liberalen in Europa und Deutschland.


Das neue ALDE Party Bureau wird mit den Gesprächen über die zukünftige Organisation der Liberalen in Europa und den Vorbereitungen zur Europawahl 2024 große Aufgaben haben.


Wir Liberale wollen 2024 noch stärker werden. Der beste Weg dahin ist eine breite Koalition, Klarheit in den eigenen Werten und Ideen sowie die Ansprache von Themen und Menschen, bei denen die großen Volksparteien in den vergangenen Jahrzehnten enttäuschten. Je geschlossener wir dabei sind, desto mehr werden Menschen darin vertrauen, dass wir umsetzen können, was wir für die Menschen erreichen wollen.






0 Kommentare

Comments


bottom of page